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Kulturjournal: Der Wohlstand der anderen

Kulturjournal: Der Wohlstand der anderen

30.10.2022 | Markus Ostermair | Kulturjournal Bayern 2 |

Am 30. Oktober 2022 erschien im Kulturjournal Bayern 2 der Essay „Wohlstand der anderen“ von Markus Ostermair. Der Essay ist nachfolgend leicht abgeändert in voller Länge angegeben. Ostermairs Gedanken gehören gehört, gelesen, reflektiert. Warum? Weil sie wichtig, klug und pointiert sind. Viel Vergnügen.

Sendung am 30.10.2022, 18.05-19.00 Uhr
Ton und Technik: Susanne Herzig
Aufnahmeleitung: Börnie Jugel
Redaktion: Thomas Kretschmer

Der Wohlstand der anderen

von Markus Ostermair

Es liegt wohl am zweiten Teil des Wortes Wohlstand, dass ich dabei nicht nur an den naheliegenden Kontostand denken muss, sondern immer auch an Stillstand. Freilich mit einem positiven Sinn versehen: an etwas mit festem, sicherem Stand, das Ruhe ausstrahlt, weil es einem nicht so leicht genommen werden kann – von Naturkatastrophen einmal abgesehen, worauf wir später noch einmal zu sprechen kommen sollten. Oder vielleicht auch gleich, denn Viren sind nichts Widernatürliches. Sie streben nach Verbreitung, mutieren dabei, passen sich an veränderte Umweltbedingungen an und springen auch über Speziesgrenzen. Gerade dann, wenn der Lungenatmer Mensch wertschöpfend, auf Wohlstand aus immer weiter vordringt, brandschatzend, rodend, mit Fallen und Käfigen, gut stapelbar für den Transport zum Wildtiermarkt in Wuhan. 

In Windeseile verbreitete sich das Coronavirus von dort aus über die ganze Welt: als blinder Passagier in Geschäftsreisenden und Urlaubern in Flugzeugen. Ich lernte in der Pandemie u. a. das Wort „Übersterblichkeit“ kennen, zum Glück nur aus der Zeitung und nicht im Familien- oder Freundeskreis und auch nicht am Arbeitsplatz, wo viele sich gar nicht richtig schützen konnten oder eben keine andere Wahl hatten, als im Akkord Menschen zu beatmen. Dann kam tatsächlich eine Art Stillstand, der freilich den Wohlstand bedrohte, wenn man denn einen hatte. Die anderen, die weder Geschäftsreisen, Urlaub noch Après-Ski machen können, guckten derweil mit dem Ofenrohr ins Gebirg. Viel wurde dann diskutiert über die ungleichen Voraussetzungen und die ebensolche Verteilung von Wohlstand. Und während „die Wirtschaft“ Öffnungsperspektiven anmahnte und man klatschte für Menschen, die im Wirtschaftsbetrieb Krankenhaus bis zur Erschöpfung arbeiteten und dann mit Einmalzahlungen auf Betriebstemperatur gehalten werden sollten, währenddessen also las ich in einem sozialen Netzwerk den Satz: „Kapitalismus ist, wenn die Wirtschaft kollabiert, weil die Leute ein paar Wochen lang nur das kaufen, was sie wirklich brauchen.“ 

Freilich möchte ich hier keine Lanze brechen für den permanenten Lockdown-Modus, aber das Polt’sche „Braucht’s des?!“ lag mir immer schon recht locker auf der Zunge. Und ja, ich bin der Meinung, dass man von unseren sog. Bedürfnissen nicht schweigen sollte, und ich plädiere generell natürlich für ein sparsames, genügsames Leben, aber Sie werden jetzt von mir angesichts des durch Handel gewandelten Russlands und seines Angriffskrieges auf die Ukraine kein „Wir alle müssen jetzt den Gürtel enger schnallen“ hören. Konsumentenansprache gibt es wahrlich genug, freilich meist in Form von in den Endpreis von Produkten eingepreister Werbung, sodass wir letztendlich die mit Musik unterlegte Werbewelt selbst bezahlen, in der schöne Menschen in quasi selbstfahrenden Elektroautos über leere Autobahnen heizen und sich dann exquisit zubereitete Speisen liefern lassen, weil sie die schiere Lust überkommt, fremde Menschen an der Lofttürschwelle freundschaftlich zu umarmen. Ach, es ist ein Kindergarten – und ich sehe Einsparpotentiale. 

Aber apropos, Einsparpotentiale: Sind die nicht da am größten, wo viel, mehr, am meisten verbraucht wird? Also im oberen Bereich der Wohlstandsskala? Und woher kommt der Wohlstand in dem oberen Bereich überhaupt? Nur durch zweifelhafte Maskentandlereien von Politikern, deren Kompagnons oder Clanangehörigen? Wohl kaum. Erwirtschaften tun diesen Wohlstand immer noch die arbeitenden Menschen, hüben wie drüben, in jedem Land der Welt. Bei ihnen kommt von diesem Wohlstand aber seit vielen Jahren immer weniger an. 

Kurzer Zahlenblock: Laut dem Globalen Wohlstandsbericht der Allianz zum Jahr 2021 – da hatte das Virus schon ein paar Runden gedreht und ich glaube, Klimakrise war auch schon – ist das gesamte Geldvermögen weltweit um 10,4 % angewachsen. Das ist zum dritten Jahr in Folge ein Zuwachs von mehr als 10 %! Der Grund, warum Sie im Hintergrund keine Champagnerkorken knallen hören, ist, dass das reichste eine Prozent der Gesamtbevölkerung knapp 43 % des globalen Nettovermögens besitzt, und die reichsten 10 % nennen 86 % des Geldes ihr eigen. In Deutschland besitzen die beiden reichsten Familien zusammengenommen 71,6 Mrd. Euro. Laut der Datenplattform „ungleichheit.info“ von der Ungleichheitsforscherin Martyna Linartas ist das mehr, als die ärmere Hälfte der Bevölkerung hierzulande besitzt – und das sind über 41. Mio. Menschen! Ende des Zahlenblocks. 

Hört man einige Vertreter dieser Superreichen, die natürlich auch Parteienspender sind, in den Medien, etwa zu den Themen Übergewinnsteuer oder Vermögenssteuer, die seit 1997 nicht mehr erhoben wird, dann fallen schnell Worte wie „Neiddebatte“, „Gleichmacherei“ oder „Kommunismus“. Man kommt auf die „Stimmung“ an den Märkten zu sprechen, die sich dadurch eintrüben könnte, und dann wird davor gewarnt, dass man Investoren „abschrecken“ könnte, wo man sie doch „anlocken“ müsste, als wären sie Tiere. Wer sind diese instinktgetriebenen Investoren, um die man im globalen Wettbewerb anscheinend buhlen muss? Aber, das Verb legt eine Art Liebschaft nahe und ich frage mich, ob es nicht eher eine „offene Wunde“ – zwinker, zwinker – ist, die da ewig lockt mit ihrem nachwachsenden Fleisch, das auf Teufel komm raus nicht in der sozialen Hängematte abhängen darf. In was investieren Investoren und wie sind sie überhaupt zu einer solchen Spezies geworden? Durch Arbeit und Leistung, die sich laut Millionären, die sich selbst zum „Mittelstand“ zählen, „wieder lohnen müssen“, also sich schon einmal dermaßen gelohnt haben müssen, dass sich die Yachten in den Häfen nur so stapeln?

Ein kurzer Zwischenritt im Schweinsgalopp bis zum Ende der Geschichte und ein wenig weiter bis zur Zeitenwende: Für das deutsche Wirtschaftswunder brauchte es den Krieg, in dem zwar Millionen Menschen in Lagern vernichtet, auf dem Feld getötet und außerdem Millionen Häuser zerbombt wurden. Doch die kritische Infrastruktur und die Industrieanlagen sind viel weniger zerstört worden als oft angenommen. Dann war da noch gut ausgebildetes Humankapital, bei dessen Einstellung bzw. Weiterbeschäftigung kein Führungszeugnis vorgelegt werden musste. Der Chef war diesbezüglich ja mit großer Wahrscheinlichkeit aus demselben Kerbholz. Dann kamen ein Strukturwandel in der Landwirtschaft und zusätzlich massenweise sog. Gastarbeiter, also Menschen, die verdammt hart malocht haben. Und dass an der BRD in Europa geografisch kaum ein Vorbeikommen war und der ganze westliche Kontinent im Windschatten der USA, aber besonders Westdeutschland, aufholen konnte und als Bollwerk gegen den Kommunismus fungierte, war sicher auch nicht unbedeutend. 

Damit im heutigen Russland eine Oligarchenklasse entstehen konnte, bedurfte es auch eines Zusammenbruchs, nach dem die Karten neu gemischt werden konnten. Und ich wage die kühne These, dass auch diese, nun ja, Investoren nicht durch eigener Hände oder Hirnwindungen Arbeit so extrem reich geworden sind. Und lange Zeit haben sie also reinvestieren können, wie auch unsere Investoren in sie investiert haben. Ihr Geld floss u. a. in Fußballclubs, in viele Firmenbeteiligungen und unzählige Mengen an Betongold in begehrten Innenstadtlagen, wo – zumindest in Deutschland – kein Schwein weiß, wem was eigentlich gehört. 

Oh, gäbe es statt Jobcenter doch Milliardärs- und Millionärscenter mit Sanktionsbefugnissen, wo die Leute schön sauber nachweisen müssten, wo sie all den Schotter herhaben! Ist der ganze Irrsinn, den sie produzieren – lassen! –, wirklich so gut, so frei von Giften und so ökologisch wie sozial nachhaltig in Produktion, Gebrauch und Entsorgung, dass wir keine zweite Erde bräuchten? – Zwischengeschalteter Werbeblock über die beiden reichsten Menschen der Welt, Jeff Bezos und Elon Musk: Trotz der mittlerweile eingeführten Obhutspflicht im Kreislaufwirtschaftsgesetz geht die tausendtonnenweise Vernichtung von rückgesendeter Ware bei Amazon weiter, als wäre nix gewesen. Kontrolle im von Wirtschaftsliberalen propagierten schlanken Staat: Fehlanzeige. Elon Musks selbstbesoffener, sogenannter Masterplan ist, mit Millionen seiner Elektro-Autos Hoffnung zu geben und so die Zukunft besser zu machen. Der Rohstoff- und Energieverbrauch dafür spielt keine Rolle, denn ohne Hoffnung ist schließlich alles nichts. Ende Werbeblock – Ist also der andauernde Zuwachs an Vermögen tatsächlich auf ihre Leistung zurückführbar oder einfach nur Resultat von infrastrukturellen und politischen Umständen? Steht bei ihren Investments der individuelle Profit wirklich in einem begründbaren Verhältnis zu den oft erst Jahre oder Jahrzehnte später auftretenden Schäden im sozialen oder ökologischen Bereich, die dann mystischerweise von der Allgemeinheit zu bezahlen sind? 

Ich frage also für einen Freund, mich selbst und für Milliarden anderer Menschen: „Wer liegt hier eigentlich wem auf der Tasche?“ 

Nach der Zeitenwende wegen des verbrecherischen und schergenhaften russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine wurde eine Reihe von Sanktionen erlassen. Darunter solche, die Oligarchen treffen sollen. Man hört von eingefrorenen Konten, Villen, die nicht mehr vermietet oder verkauft werden dürfen, und Luxusyachten sowie Privatjets, manchmal ganze Flotten davon, die festgesetzt wurden. Nun gut, aber was bringen uns diese Yachten und Villen? Was bringen sie den Menschen in Russland, denen das Geld dafür eigentlich hätte gehören sollen? Oder den Menschen in der Ukraine, denen es jetzt zustehen sollte? 

Wie – und das ist eine ernsthafte und ernstgemeinte Frage – kann dieser ganze Privatluxus, den sich die Welt nicht leisten kann und nie hat leisten können, wieder vergesellschaftet werden? Wie kann das sinnvoll der Allgemeinheit zugutekommen, ohne dass das Klima noch mehr Schaden davonträgt? Denn während dieser Luxus eingefroren ist und sich damit nichts an den Eigentumsverhältnissen ändert, taut es an anderer Stelle aber ganz gewaltig! 

Wir leben in einer Welt, in der 1 % der Weltbevölkerung – die Superreichen nämlich – für fast 17 % der weltweiten Emissionen verantwortlich ist. Und zählt man weitere 9 % der Menschen dazu, dann betragen deren Emissionen zusammengenommen 48 %. Dagegen verursachen die ärmsten 50 % der Weltbevölkerung nur 11,5 % der Emissionen. Und wir leben in einer Welt, in der 2022 1/3 der Landfläche Pakistans überflutet wurde. Ein Drittel! Und der September dieses Jahres war zwar in Deutschland im Gegensatz zum Sommeroktober nass und kalt, aber der mit Abstand wärmste in Grönland seit Beginn der Wetteraufzeichnungen. Panta rhei. Alles fließt in dieser Welt nach oben und nichts tricklet down – außer der Flut. 

Mit anderen Worten: Wir können uns diese Reichen, ihren immer zunehmenden Reichtum und die Parteispenden und Investitionen, die damit getätigt werden, nicht mehr leisten. Wir können uns die Medienimperien, die damit teilweise betrieben werden und in denen sie zum Teil die 5 als geradeste aller Zahlen verkaufen, nicht mehr leisten. In Deutschland nicht, in Europa und den USA nicht, in Russland schon gar nicht, aber auch nicht im Rest der Welt. 

Apropos Zeitenwende – hier noch eine Meldung vom 20. Oktober 2022: deutsche Unternehmen haben im 1. Halbjahr die Rekordsumme von 10 Mrd. € in China investiert – die höchste Summe seit 2006, wobei der Hauptteil von vier deutschen Großkonzernen stammte aus den Bereichen Chemie und natürlich der Autoindustrie, die wegen der höheren Gewinnmargen hinter den Kulissen alles für den Verbrennungsmotor tut und gleichzeitig sowieso den Planeten mit Millionen neuer E-SUVs retten wird. Deshalb ist der russische Bergbau- und Zulieferkonzern für Batteriekomponenten Nornickel auch nicht von den Sanktionen betroffen, dessen Hauptinvestor der Putin-Vertraute Oligarch Potanin ist, der mutmaßlich zweitreichste Mann Russlands. Doch wir waren bei China, dessen digitale Bürgerüberwachung freiheitsliebende deutsche Investoren nicht abschreckt, weil diese nicht die Profitrate beeinflusst. Man investiert ja nicht in Menschen oder deren Zusammenleben mit Uiguren oder Taiwanesen, sondern in zukünftige Profite. Ob dabei die Zukunft als Ganzes überhaupt noch lebenswert sein wird, sehen wir, wenn es soweit ist. 

Ich für meinen Teil sehe keine Gefährdung des finanziellen Wohlstands. Ich sehe vielmehr eine Gefährdung durch die Konzentration dieses Wohlstandes auf viel zu wenige Menschen. Ich sehe eine Gefährdung darin, den Welt- und Menschenbildern derjenigen ausgeliefert zu sein, die sich hinter diesen Investitionen verbergen. Ich sehe eine Gefährdung darin, dass unter Wohlstand die reine Anhäufung von materiellem Besitz verstanden wird, während in den letzten Jahrzehnten immer mehr Bereiche des Lebens, darunter solch existenzielle wie Krankenhäuser oder das Wohnen, dem Markt überlassen wurden. Das vermehrt die Unfreiheit. Das zerstört, anstatt das es konservativ ist oder etwas respektiert, geschweige denn fördert, weder die Natur noch den sozialen Zusammenhalt über Klassen, Geschlechter, Generationen und Grenzen hinweg. 

In diesem Sinne also: Future is an attitude – freilich eine andere als die von den Werbemachern gemeinte.