Wachsende Unzufriedenheit in der Bevölkerung, Vertrauensverlust in die Politik, Zunahme von Kriminalität und Gewalt: Die gesellschaftlichen Folgen von ökonomischer Ungleichheit sind vielfältig. Dennoch spielt das Thema für politische Parteien sowohl in Deutschland als auch länderübergreifend in Wahlprogrammen eine viel geringere Rolle, als bislang von der Wissenschaft angenommen. Dies zeigt eine aktuelle Studie des Exzellenzclusters „The Politics of Inequality“ an der Universität Konstanz, die jüngst in der Zeitschrift „American Political Science Review“ veröffentlicht wurde.
Link zur Studie: Cambridge University Press.
Alexander Horn, Hauptautor der Studie und Forschungsgruppenleiter der Emmy Noether-Gruppe "Varieties of Egalitarianism", fasst die Ergebnisse zusammen: „Gerade in Ländern, in denen die ökonomische Ungleichheit in der Bevölkerung bereits stark ausgeprägt ist, ignorieren politische Parteien das Thema programmatisch weitgehend. Das trifft selbst auf linke Parteien zu.“ Weiterhin stelle die Studie fest, dass sogar linke Parteien starke Einkommenszuwächse an der Spitze der Verteilung, also bei den besonders Wohlhabenden, nicht thematisieren. Selbst Zugewinne des reichsten Prozents der Bevölkerung führen nicht zu einer entsprechenden politischen Reaktion.
„Als Ursachen vermuten wir strukturelle Verzerrungen demokratischer Prozesse: Die reichsten Menschen in einer Gesellschaft bleiben für die Öffentlichkeit oft unsichtbar. Die ärmeren Bevölkerungsgruppen scheitern hingegen an Mobilisierungshürden. Außerdem gibt es die Tendenz, den ungleichen Status quo meritokratisch zu rechtfertigen, also zu argumentieren, dass das Vorhandensein von finanziellen Ressourcen an die persönliche Leistung gekoppelt sei“, ordnet Horn die Ergebnisse ein.
Erst wenn sich die Ungleichheit in einem Land vergrößert, weil die Menschen am und unter dem Medianeinkommen weiter zurückfallen, gibt es eine Reaktion der Parteien. Eine Ausnahme, so zeigt die Studie, bilden dabei die rechten Parteien: Sie reagieren weder auf hohe Einkommensniveaus noch auf Veränderungen von ökonomischer Ungleichheit.
Damit liefert die Studie Erkenntnisse über strukturelle Schwächen in der Demokratie. Horn zufolge zeigen die Ergebnisse, dass Demokratien eine hohe (Einkommens-) Ungleichheit nicht automatisch korrigieren. „Im Gegenteil, sie können Mechanismen hervorbringen, die Ungleichheit verfestigen – und das gilt sogar für linke Parteien und Regierungen“, so Horn.
Zur Methodik: Für ihre Untersuchung haben die Politikwissenschaftler um Alexander Horn 850.000 Aussagen aus Wahlprogrammen in 12 OECD-Ländern über einen Zeitraum von 50 Jahren (1970-2020) mittels Online-Crowdcoding systematisch ausgewertet. Online-Crowdcoding bezeichnet die internetgestützte, plattformbasierte Zusammenarbeit vieler Personen, die gemeinsam große Datenmengen durch Codierung oder Klassifizierung auswerten. Diese Herangehensweise ist in ihrer Gesamtheit eine methodische Innovation, mit deren Hilfe frühere Forschungsergebnisse relativiert werden konnten, in denen fälschlicherweise von einer stärkeren politischen Reaktion linker Parteien auf Einkommensungleichheit ausgegangen wurde.